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Die Psyche des Weibes ist so geartet, daß sie jeder Analyse großer Lebenswerte widerstrebt. Das Weib lebt sich zumeist in Gefühlen aus und gelangt durch solche zum Bewußtsein ihrer Wesenheit im Gegensatz zum Manne, dem die Sphäre des Intellektuellen das Gebiet ist, auf dem sich ihm seine Eigenart plastifiziert.
Gefühle aber sind einerseits ungreifbare Schwebungen, mystische Kreise, Gebilde, die oft zwischen Sein und Nichtsein so haarscharf auf der Spitze stehen, daß ein kalter kritischer Hauch sie, wenigstens an ihrer Oberfläche, zu verändern oder zu zerstören vermag, andererseits sind sie wiederum mit dem Individualitätsgehalt der Persönlichkeit im tiefsten Grunde so eng verkettet, als sie in ihrem letzten Bestände unzerstörbar sind – daher ihre Tendenz, sich in der dunklen Sphäre des Unbewußten zu verlieren, unterhalb der Schwelle des Bewußtseins zu verbleiben und hier ihr heimliches Spiel im Triebleben des Weibes zu treiben.
Je näher das Weib dem Typus des Vollweibes steht, d. h. je mehr die weiblichen Elemente in seiner Wesensmischung vorwiegen, desto fester ist es an seine Gefühlswelt gekettet, desto ängstlicher hält es sich dem scharfen logischen Denken fern, desto eigensinniger hält es an seinen Vorurteilen fest, die sich ihm aus der Enge seiner Anschauung aufdrängen. Und auf dem Gebiete der Liebe und der Sexualempfindung ist es besonders scheu und spröde und will mit geschlossenen Augen seine Wege gehen. Das Vollweib fürchtet sich vor dem Denken an sich. Das differenziertere Weib fürchtet sich noch vor dem reinen strengen Denken der Wissenschaft, ihm liegt das unreine Denken der Kunst (im Sinne Nietzsches) näher.
Das Weib ist die Hüterin der Illusion. Ihm graut vor den starken deutlichen Erkenntnissen, es fürchtet den dornigen Weg, der zu ihnen führt.
Und in gewissen Sinne hat es recht.
Das kausale Denken ist für das ungeübte Gehirn eine schmerzhafte Prozedur und zerstört allerdings manche bequeme Dunkelheit, räumt mit den Truggebilden liebgewordener Vorurteile auf und schafft vorerst eine große Leere um sich her, mit der man sehr lange nichts anzufangen weiß. Doch dem treuen Ausharren wächst langsam eine neue herrliche Welt aus den Ruinen, die der alten Illusion nicht mehr bedarf, da ihrem Horizonte das Licht der Erkenntnis leuchtet, das die Gefühle auf den realen Boden von Ursache und Wirkung stellt und ihnen damit ihre Enge und Fesselung nimmt.
Auch das Gebiet des Liebes- und Geschlechtslebens verändert sich unter diesem Licht. Es wird einfacher und verwickelter zugleich. Was nur die eine, ewig alte Frage schien, teilt sich plötzlich in viele neue, die aber alle von unabänderlichen Gesetzen wieder zur Einheit geschlossen werden. Und dieser vielfachen Bedeutung der Fragen und ihrer einschneidenden Wirkungen auf die leibliche, seelische und soziale Lebensentfaltung gegenüber überkommt den Erkennenden mit bewußter Deutlichkeit das Gefühl der Verantwortung, das der Wissende dem Leben gegenüber hat.
Und mitten in diesem Leben und seiner Verantwortung steht auch das Weib. – Als Liebende, als Gattin, Mutter und Erzieherin steht es im Mittelpunkte eines Kreises, der in gewissem Sinne von ihm abhängig ist, dessen Leiden und Freuden von dem Umfange seiner Lebenseinsicht und Übersicht beeinflußt werden. Aus dieser ernsten Erwägung heraus, sollte das Weib, wenn es sich zu einer reifen Persönlichkeit entwickelt hat, die sich dadurch kennzeichnet, daß sie ihr Recht an den Gütern des Lebens mit einer gewissen Bereitwilligkeit zu Pflichten, die es auferlegt, auszugleichen gewillt ist – sich einer der größten Pflichten bewußt werden: nämlich der, sich keinerlei Erkenntnis bedeutsamer Lebensvorgänge zu verschließen.
Nun aber ist der Mensch als ein Geschlechtswesen, von wenigen Vorgängen seiner persönlichen Entwicklung so absolut abhängig, als eben gerade von denen, die sein werdendes und entwickeltes Geschlechtsleben begleiten und bestimmen. Lange hat das Gebiet des Geschlechts- und Liebeslebens des Menschen unter dem Dunkel des Geheimnisses gestanden, um welches selbst die Wissenschaft einen scheuen Umweg machen zu müssen glaubte. Aber auch hier siegte endlich die Freiheit der Forschung und langsam enthüllten sich uns die innigen Zusammenhänge der physischen und psychischen Zustände in der geschlechtlichen Individualität des Menschen.
Bei Ergründung dieser unendlich komplizierten Lebensvorgänge berührte die Wissenschaft auch die scheinbar so rätselhafte Erscheinung des urnischen Menschen und seiner konträren Geschlechtsempfindung, welche bei genauer Erforschung so weitgehende Berührungspunkte und Konsequenzen auf dem Gebiete der individuellen und sozialen Lebenszustände ergab, daß sie zu einer der brennendsten Tagesfragen unserer Zeit wurde.
Und es entsteht nun die Frage: Hat das reife Weib, das – ich betone es wieder – durch ihre Aufgabe als Gattin, Mutter, Erzieherin und Lehrerin mit den wichtigsten Positionen in Familie, Gesellschaft und Staat betraut ist – das Recht, sich dieser Lebenserscheinung gegenüber absolut ablehnend zu verhalten?
Stellte dieselbe vereinzelt als eine Abnormität oder pathologischer Fall ein rein wissenschaftliches Sonderinteresse dar – dann allerdings.
Seit indes die medizinische, biologische, historische, ethnographische und forensische Forschung sich des andrängenden Tatbestandes derselben kaum noch erwehren kann und das Material desselben nach allen Richtungen der wissenschaftlichen Begutachtung unterbreitet ist, deren Resultate zu einem gewaltigen Strom einer besonderen Literatur angewachsen sind und die mit nachdrücklicher Überzeugungskraft den Beweis erbringen, daß diese merkwürdige Lebenserscheinung so eng mit unseren täglichen Daseinsbeziehungen verwachsen ist, daß sie auch dem Weibe auf ihren Pflichtwegen durch das Leben jeden Augenblick so nahe gebracht werden kann, daß sie sich mit ihr auseinanderzusetzen haben wird – seitdem hat es jedenfalls kein Recht mehr, ihre Vogelstraußpolitik diesen Tatsachen gegenüber beizubehalten.
Und vorerst wird ja nichts weiter von ihm verlangt, als daß es Kenntnis davon nimmt, daß neben dem weiten Gebiete der normalen sexuellen Veranlagung ein anderes, besonderes und weit engeres existiert, dessen ihm zugehörige Individuen eine andersgeartete Triebrichtung aufweisen.
Denn auch die Statistik, diese strenge Richterin, die mit nicht abzuweisender Deutlichkeit und nüchterner Tatsächlichkeit alle Lebensverhältnisse unter die unbeugsame Wahrheit der Zahl bringt – sagt es laut und eindringlich, daß wir auf dem Gebiete des menschlichen Geschlechtslebens, außer mit den beiden, deutlich in Mann und Weib geschiedenen Individuen, noch mit einem, im Verhältnis zur Gesamtmenschheit nicht unwesentlich bevölkertem sexuellen Zwischenreich zu rechnen haben, an dessen Individuen eine Umwandlung (Inversion) des normalen Sexualempfindens wahrzunehmen ist und welche von der Wissenschaft als urnische Menschen bezeichnet werden.
Doch von all diesem weiß und will die Frau nichts wissen. Sie hat keine Ahnung von der Fülle der Arbeit, die in den letzten drei Jahrzehnten von den bedeutendsten Männern der Wissenschaft geleistet, wie viel Opfer an Kraft und Selbstverleugnung von den edelsten Geistern gebracht wurden, um dieses dunkle Lebensgebiet aufzuhellen, es von Aberglauben, groben Mißverständnissen und falschen Voraussetzungen zu reinigen.
Wozu all dieses – fragt sie achselzuckend, was geht das uns an; mag die Wissenschaft tun, was sie muß, uns kümmert diese ekle Sache nicht.
Nun ist aber diese Angelegenheit an sich keine ekle Sache, sie wird es erst im Munde derer, die von ihr reden, ohne etwas Genaueres davon zu wissen.
Gesetzt aber, sie wäre es wirklich, mit welchem Recht dürfte die Frau sich ihr so ganz verschließen? Ist nicht auch der Krieg z. B. mit seiner Grausamkeit, mit seinen furchtbaren Anblicken von Blut und Wunden eine für die Frauennatur ekle Sache? Wie nun, wenn sie sagen wollte – was geht dies uns an, mag der Staat tun, was er muß, uns kümmert es nicht. Wir sehen aber in Wirklichkeit das Gegenteil geschehen. Scharen edler Frauen drängen sich zum Samariterdienst, denn immer sind die besten der Frauen da zu finden, wo sie sich mit ihrem warmen Herzen, ihrem großen, heldenhaften Mitleid helfend, verstehend und tröstend in den Dienst der Menschheit stellen können.
Was wäre auch die Menschheit ohne des Weibes großes, warmes Herz?
Und so käme es wohl nur darauf an, der Frau zu beweisen, daß ihr großes, warmes Herz auch auf diesem Gebiete des Lebens eine ebensolche absolute Notwendigkeit ist, als auf dem Schlachtfelde der Kriege.
Denn Wunden und Leid und bitteres Weh gibt es hier in ungeahnter Fülle. Nur, daß dies Leid und Weh nicht sichtbare Wunden zeigt, daß die Seele gemordet wird statt des Leibes, daß Menschen zu solcher Höhe der Verzweiflung getrieben werden, daß sie das Leben nicht mehr ertragen und ihm selbst ein Ende machen. Und wenn die Wissenschaft uns sagt, daß dies an hunderten und nicht den schlechtesten der Menschheit geschieht – darf da die Frau noch untätig bleiben?
Und hier ist der springende Punkt der Sache. Die urnische Frage ist in ein Stadium getreten, wo sie des großen Mitleides, des warmen Mitgefühls, der verstehenden Mitarbeit der Frau bedarf.
Und von diesem ethischen Standpunkt aus ist es nun nicht mehr die sachliche Zuspitzung der Frage an sich, womit es die Frau zu tun hat, sie hört auf, eine speziell nur sexuelle Frage zu sein und wird eine allgemein menschliche Angelegenheit, der sich die Frau nicht nur nicht mehr zu verschließen braucht, sondern vielmehr sich nicht mehr verschließen darf, wenn anders sie sich nicht selbst außerhalb aller Lebenspflichten und jener Verantwortlichkeit setzen will, die jedem Vollmenschen sein Teil der Mitarbeit an allen ernsten Menschheitsfragen auferlegt.
Und wahrlich, wenn die Frauen sich nur erst einmal entschlossen haben werden, mit der Tapferkeit, die das Kennzeichen der edlen Weiblichkeit ist – in die Abgründe von seelischem Leid und tiefer Qual zu schauen, die ihnen die Geschichte dieser Sondergruppe von Menschen aufzuzeigen hat – das weitere würde sich ganz von selbst ergeben; denn alles Geschehen vollzieht sich nach unabänderlichen Gesetzen: und das zwingende Gesetz des Weibes ist die Liebe, der das Mitleid entströmt.
Aber ich sehe euch beunruhigt, ihr Frauen.
Ihr hörtet wohl leise und wie im Dunkeln die furchtbaren Worte und Namen, die wie etwas Entsetzliches, Geheimnisvolles in flüsternden Andeutungen oder rohen Zynismen an euer Ohr schlugen und nie zu euerem Verstehen drangen. – Um aber helfen zu können oder zu wollen, muß man das besondere Leid verstehen, das unserer Hilfe bedarf.
Hier nun tritt die Wissenschaft in ihr Recht, welche mit der strengen Wahrheit und Gerechtigkeit ihrer Forschung jeder Lebenserscheinung ihr Zufälliges und Nebensächliches nimmt und sie durch diese Verifikation und Purifikation auf ihren einfachen Tatsachenbestand reduziert und damit jedem als naturgewollt bewiesenen Zustand des Lebens sein Jenseits von Gut und Böse gibt.
Und diese Wissenschaft sagt uns nun von der urnischen Frage:
1. Daß die konträre Sexualempfindung eine gänzlich unverschuldete, weil durch Störung des Waltens empirischer Naturgesetze begründete Erscheinung ist.
2. Sie verdient Mitleid und nicht Verachtung gleich jeder anderen Mißbildung oder Funktionsstörung.
8. Ihr Vorhandensein ist durchaus mit normaler geistiger Funktion verträglich. (Krafft-Ebing.)
4. Das Endergebnis unserer weit ausgedehnten Objektforschungen ergibt den sicheren Beweis, daß der Uranismus und das gleichgeschlechtliche Empfinden (Homosexualität) niemals durch äußere Ursachen erworben, nie anerzogen, sondern stets angeboren ist (M. Hirschfeld.)
5. Konträre Sexualempfindung ist nicht als die Folgeerscheinung verderbter Sitten der Kulturvölker aufzufassen, denn gewissenhafte und umfassende Erforschungen haben ergeben, daß alle Naturvölker ohne Ausnahme diese Erscheinung in großem Umfange aufzuweisen haben. (Fr. Karsch.)
6. Das Resultat der statistischen Aufstellung über das Verhältnis der urnischen Momente zur Normalbevölkerung ergibt für Deutschland 1 200 000 Urninge – davon für Berlin allein 56 000 – prozentual ausgedrückt 2,2 Prozent der Gesamtbevölkerung. (M. Hirschfeld.)
Diese Fundamentalsätze, welche die streng sachliche Forschung für dieses Lebensgebiet aufgestellt hat, sprechen wohl deutlich genug für alle die, welche logisch zu denken und gerecht zu fühlen imstande sind. – Die Zahlen an sich sind ein frappierendes Element bei dieser Ausnahmeerscheinung, daß sie allein genügen könnten, uns zu zwingen, dieser ernsten Menschheitsfrage näher zu treten und alle vorschnellen Urteile ruhen zu lassen, bis wir sie mit unserem Verständnis erfaßt haben.
Und merkwürdigerweise erhält die ganze Frage gerade durch die trockene, dem Leben scheinbar ganz abgewendete Zahl ihre stärkste Belebung und Aktualität Sie bildet die Brücke, durch welche auch die Frau leicht und unbeschadet ihrer seelisch-feinen Empfindlichkeit ihre ethische Stellung zu dieser ernsten Angelegenheit finden kann.
Denn – wenn solche Umkehrungen scheinbar so festgelegter psycho-physischer Verhältnisse in so großer Anzahl auftreten können, so tritt in furchtbarem Ernste die Möglichkeit des Erlebens eines solchen Falles im eigenen Kreise, in eigenster Familie dem einzelnen Individuum erschreckend nahe und damit überkommt dasselbe ein starkes Gefühl der Verantwortung, das nicht mehr zu umgehen ist – Als Liebende, als Gattin, als Mutter, Erzieherin und Lehrerin kann jede Frau vor dieses Lebensrätsel so nahe hingestellt werden, daß sie über ihr eigenes und das Schicksal und Leben anderer in einschneidender Weise zur Beurteilung und Entscheidung gedrängt wird. In ihr intimstes Leben hinein kann eine verhältnismäßig so oft wiederkehrende Erscheinung ihre Schatten werfen. Welchen Qualen ist sie preisgegeben, wenn sie ihr blind und unwissend gegenübersteht und welch schweres, oft nie wieder gut zu machendes Unheil kann sie damit über sich selbst und ihre Allernächsten verhängen.
Die Frau muß sich Klarheit und Einblick verschaffen in die Unsumme von Leid und Qualen, von Selbstzerstörung und lebenslänglicher Folterung, das durch Mißverstehen und Nichtverstehenwollen und -können an Tausenden von Menschenleben sich vollzogen hat. Sie muß sich um die Tausende von Fällen zu kümmern anfangen, die heillose Verwicklung zu den unnatürlichen Verhältnissen erkennen lernen, zu denen Unwissenheit und Vorurteil die Lebensschicksale jener Unglücklichen verwirrt hat.
Es gilt für sie, die eigene Individualität richtig einzuschätzen, über ihre eigene Veranlagung im klaren zu sein, um als Liebende keinen Fehlgriff zu tun. Sie wird die Natur des Gatten, des Kindes begreifen lernen müssen, um ihrer Lebensaufgabe voll gerecht zu werden. – Und so als eine, an der Erziehung des Menschengeschlechts durch ihre seelische Eigenart ganz besonders wertvoll beteiligte, Persönlichkeit, ist es eben die ethische Seite und nur diese, um welche die Frau sich in dieser Frage zu kümmern hat
Ihr muß das unantastbare Resultat wissenschaftlicher Forschung, durch welche die Existenz des Uranismus als naturgewollt bewiesen ist, genügen, um sich dieser Lebenserscheinung zuzuwenden, weil mit dieser Forschung die Beweisführung parallel einhergeht für eine Unsumme furchtbarster Ungerechtigkeit und Quälerei, welche geradezu nach dem Mitleid, Mitgefühl und Verständnis und tatsächlichem Eingreifen der wissenden Frau schreit. Die Frau kann und muß vollständig absehen von dem Dunstkreis des Häßlichen und Gemeinen, das zurzeit in Laienkreisen noch immer mit dieser Frage verquickt wird. – Bei den widerlichen Vorkommnissen, welche sich hier wie dort ereignen, hat die Frau mit ihrem empfindlichen Fühlen nichts zu tun. Der Zeiger der organisierten Gerechtigkeit weiß die Stunden schon zu finden, wo er zum Schlage auszuheben hat – aber das Gefühl der Gerechtigkeit selbst zu verfeinern und den neuen, durch Erkenntnisse modifizierten Anschauungen anzupassen – dazu ist ganz besonders das Weib berufen, dessen Lebensgesetz die Liebe ist, die Liebe, aus welcher allein die gerechte Gerechtigkeit geboren wird. –
Nur so kommt die Frau der ungeheuren Arbeitsleistung der vielen bedeutenden Männer entgegen, die mit Aufbietung ihrer Kraft, unter Schmähungen empörendster Art die Aufklärung dieses hartumkämpften Gebietes auf sich genommen haben. Und gerade wir alle, die wir uns die Normalen nennen, haben diese bedeutsame Aufgabe. Denn von so unbegrenztem Werte auch alle subjektiven Offenbarungen und Enthüllungen selbst urnisch veranlagter Individuen als notwendige Dokumente für die Forschung selbst sind – wirksamer und praktisch bedeutsamer ist die Arbeit der objektiv über der Sache stehenden, derer, die nicht von sich und nicht für sich selbst sprechen. –
Wie aber gelangt nun die Frau zu jener Einsicht in das Gefühlsleben und die persönlichen Erlebnisse der Unglücklichen, für welche sie erst die heilige Flamme des Mitleids in ihrer Seele entzünden muß, um an ihrem Sondergeschicke jenen lebensvollen, eindringlichen und mitfühlenden Anteil in sich zu erwecken, aus dem heraus es ihr ein menschlicher Zwang wird, die unerhörte Barbarei und Tyrannei aufheben zu helfen, unter welcher diese ihre Mitmenschen bislang noch gefesselt sind?
Zu dieser besonderen Erkenntnis führen, wie zu jeder anderen, zwei Wege: Die Bücher und das Leben. Man lese nur einige der herzbewegenden Artikel in den Jahrbüchern, welche das wissenschaftlich-humanitäre Komitee in Berlin seit sieben Jahren herausgibt. Die Fülle des Stoffes darin ist erdrückend. Ganz besonders eindrucksvoll sind die unzähligen Tagebuchbekenntnisse und biographischen Enthüllungen, die uns eine unendliche Perspektive von Leiden und Qualen in dem Erleben der Urninge auftun. Und daß es vielfach die Besten ihrer Zeit sind, von denen wir alles dies teils durch sie selbst, teils durch ihre Biographen erfahren, stellt die ganze Angelegenheit in ein doppelt bedeutsames Licht
Wäre es immer nur die Hefe der Menschheit, bei der uns stets noch Zweifel an der Reinheit ihrer Gesinnung und Absichten beeinflussen könnte – die das Hauptkontingent zu dieser Gruppe von Individuen stellte, so hätten wir vielleicht noch einen Schein des Rechtes, uns ablehnend zu verhalten. So aber finden wir Namen edelster Art unter ihnen. Namentlich von Fürsten, Künstlern, Staatsmännern, Vertreter der Wissenschaft – kurz Menschen, die der Menschheit Größe und Höhe repräsentieren, stehen vor uns auf diesem Boden und zeigen uns die Qual, die sie dort erduldet, unter der sie oft zusammenbrachen – und alles nur deshalb, weil die Natur sie anders schuf, als uns. – Diese Summe von Haß und Verfolgung von Mensch zu Mensch, welche an die dunkelsten Zeiten überlebter Kulturepochen erinnert, sprechen eine Sprache, der sich kein fühlender Mann, geschweige denn die weiche Seele des Weibes verschließen kann. Gehet hin und lauscht. Euer Herz wird erbeben in überquellendem Mitleid und vielleicht kommt euch auch eine leise Scham, daß ihr euch so lange diesem Leid der Menschheit, zu dessen Helfern ihr gesetzt seid, versagtet.
Lest die Hunderte von Briefen, aus den verfolgte Menschen, verfehlte Existenzen, unglückliche Ehen, unverstandene und entgleiste Jugend, durch Verfolgung in den Tod getriebene ihren Jammer und ihre Qual in das willige Ohr der Wenigen hineinrufen, die ihnen ein menschlich warmes Verstehen entgegenbringen. Es ist wahrlich an der Zeit, daß diese wenigen Willigen entlastet werden, zu groß und erdrückend ist der Jammer von Tausenden für die müden Schultern der Wenigen, die unter der Last ihres willigen Opfermutes fast zusammenbrechen. –
Und ihr ganz Mutigen unter den Frauen geht zum Leben selbst.
Laßt euch von kundiger Hand dorthin führen, wo ihr diese besondere Menschenart in ihrem intimen Verkehr untereinander beobachten könnt, oder gar zu den Einzelnen, die euch die Beichte ihrer Lebenserfahrungen nicht vorenthalten werden, denn sie wissen zu wohl, daß sie es sich noch gegenseitig schuldig sind, sich und ihr innerstes Erleben als Material der Forschung darzubieten, solange die Akten über die Existenzberechtigung ihrer Sonderstellung noch nicht geschlossen sind. Und ihr werdet auf diesem Gang Vieles lernen und begreifen.
Vor allem wird euch die eigene Anschauung überzeugen, daß diesen Menschen meist schon äußerlich ihr inneres Anderssein aufgeprägt ist Männer in Frauenkleidern werdet ihr oftmals für wirkliche Frauen nehmen; in Aussehen, Gang, Haltung, Stimme, Anmut der Bewegung haben sie ein absolut feminines Gepräge. Und gewisse Frauen in Männerkleidern würdet ihr nie als euresgleichen betrachten, so absolut anders geartet fühlt man sie. Und dieses, durch eigene Anschauung aufgenommene Gefühl wiegt alle Bücher und Berichte auf. – Ihr werdet harmlose Menschen finden, die weiter nichts wollen, als daß sie von ihren Mitmenschen in Ruhe gelassen werden und doch das Odium des Verbrechertums erdulden müssen; unglückliche Kinder, aus toten Ehen gezeugt, werden euch begegnen; verdorbene Ehen, aus Mangel an Erkenntnis zu tödlichen Qualen beider Gatten geschlossen; verfinsterte Seelen, die den Keim zum Großen und Edlen in sich tragen, der niemals zur Vollendung gelangt, weil das Individuum alle Kraft zur Notwehr gegen die Verachtung und Verleumdung seiner Mitmenschen aufzehrt. Alles das werdet ihr sehen und hören und plötzlich manch dunkeles Ereignis eurer Umwelt begreifen, Selbstmord und Entzweiung und Flucht und scheinbare Schande und Sünde mancher Art.
Aber ihr werdet auch von etwas sehr Lichtem und Edlem hören. Von Frauen eurer Art, die das schwere Unglück traf, zur Ehe eben eines jener Sonderwesen zu erwählen und die nach schwerem Kampfe und tiefem Leiden endlich ihres gegenseitigen Irrtums innewerden und trotz allem solche tiefe innige Liebe zu dem Manne fühlten, daß sie ihm trotz allem die Treue hielten, auf alles physische Glück verzichteten, um seelisch verbunden zu bleiben bis zum Tode.
Solche Männer sprechen von ihren Frauen mit Worten innigster Verehrung und Anbetung, und wahrlich, sie stellen ungewollt damit sich selbst das edelste Zeugnis aus.
Alles das kann die Frau erfahren, in ihrem Herzen bewegen, ohne auch nur mit der geringsten moralischen Unreinheit in Berührung zu kommen. Denn, ich wiederhole es zur Ermutigung der Frauen – nur die ethische Seite der urnischen Frage ist das Gebiet, auf welches die Frauen ihre Wirksamkeit einzustellen haben. Auf diesem aber ist es nicht nur ihre Pflicht als Mensch, unter Menschen sich mit dem, ihr von der Natur verliehenen besonderen Gaben, vollmenschlich zu betätigen – sondern es ist sogar ihr Recht, zu erwarten, daß sie zu der Entscheidung in dieser bedeutsamen Angelegenheit herangezogen werden, da ihre Stellung als Liebende, Gattin, Matter und Erzieherin sie mit den Erscheinungen dieses geschlechtlichen Sondergebietes so eng verknüpft, daß ihre Unkenntnis der Sachlage nicht nur für sie selbst, sondern für alle jene, die durch irgendwelche der vielfachen Lebensbeziehungen mit ihrem Dasein an sie gebunden sind, ein ungeheures Maß von Unglück und Leid herbeiführen kann.
Die Entwicklungsgeschichte der Menschheit führt uns immer tiefer zur Erkenntnis der Zusammenhänge aller Daseinserscheinungen und nimmt damit jeden noch so auffallenden, scheinbar isoliert auftretenden und dadurch widernatürlich erscheinenden Vorgängen ihr Odium, indem sie dieselben aus ihrer Isolierung heraushebt und der unendlichen Reihe der Entwicklungsmöglichkeiten einfügt, wodurch sie dem allgemein Menschlichen angegliedert werden; damit aber hören sie auf, eine besondere Frage zu sein und fallen unter die Wertung und Gerechtsame der normalen Menschheitszustände.
Zu dieser logischen Einmischung in die Allgemeingültigkeit scheint jetzt die urnische Frage zu gravitieren.
Und die Frauen werden dabei das letzte – vielleicht das beste Wort zu sprechen haben.